Bauherr:in: privat
Mitarbeiter: Nils Oehler, Rosa Modersohn
Fertigstellung: 2023
BGF: 399 m2
Leistungen: HOAI LPH 1 - 9
Haus W in Netra, Nordhessen
2020-2023
Es ist eine große Aufgabe: eine junge Familie kehrt in das Dorf der Großeltern zurück, hier soll ihr neues zu Hause entstehen. Er übernimmt die Landarztpraxis, sie gründet eine Praxis für Supervision und Coaching, die zwei kleinen Kinder kommen im eingemeindeten Nachbardorf zur Schule.
Netra liegt idyllisch, fast einsam, im Grünen, Hügel mit Burgen und Wanderwegen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze machen die Umgebung attraktiv. Das Dorf selber hat ein ehemaliges Wasserschloss, eine prägnant bekrönte Natursteinkirche und giebelständige stattliche Wohnhäuser. Kommt man von außen auf den Ort zu, so prägt eine rote Dachlandschaft das dörfliche Ensemble. Man kennt sich hier und man hilft sich, und Hilfe ist oft von Nöten.
Lange wurde hier nicht neu gebaut, und wenn, dann in hellgelb mit Kunststofffenstern und Edelstahl, vielleicht noch etwas hochglänzender Naturstein - so der heutige Stand der Technik.
Eine Publikation führt das Ehepaar W., das diese Bauweise in Frage stellt, zu uns Architekt:innen nach Berlin. Ob wir das Projekt von hier aus übernehmen können? Covid macht die Umstände nicht leichter – und das nicht mehr Vorhandensein von Handwerk im Allgemeinen wird uns im Prozess schmerzhaft vor Augen geführt.
Eine große, im Dorf zentral gelegene Wiese, leicht erhaben über dem Graburgweg, wird von Osten erschlossen.
Der Neubau wird viele Funktionen aufnehmen: 3 Schlafzimmer, 3 Bäder, die Praxis für Supervising und einen Wohnbereich mit Platz zum Arbeiten, alles unter seinem roten Dach. Genau genommen sind es drei Dächer. Sie verschmelzen zu einem Haus, einem Ensemble von Häusern, so wird das Dorf weitergebaut.
Gemeinsam bilden die Hausfragmente einen Hof, und da, wo eines von ihnen zurückspringt, gibt es eine Terrasse, zum Verweilen, zum sich Zurückziehen, oder eben den Eingang, gefasst von einem Bogen, hier bist du willkommen!
Das Bauunternehmen vor Ort kann den Massivbau erstellen, ein Zimmermann ist auch vor Ort. Der Dachdecker holt seinen alten Vater-Dachdeckermeister, denn so etwas Individuelles hat man schon lange nicht mehr gemacht.
Unser Ansatz ist ein einfaches Haus, gemauert und gezimmert, Dämmziegel mit einer Schicht hellrotem Klinker aus Meissner Region, sichtbares Dachtragwerk. Versiegelter Estrich verbindet die fließenden Räume. Low Tech und row Material.
Drei Häuser zum Wohnen und Arbeiten, jedes mit seinem eigenen Charakter, das Arbeiten mit kleinen Fenstern zum Nachbarn und einer Tür zum Innenhof, der Schlaftrakt mit Emporen für die Kinderzimmer, hier stülpt sich das Dach spitz nach oben, aus Traufe wird First. Und das zentrale Haus nimmt eine Empore auf, zum Spielen oder Arbeiten, je nach Tageszeit. Dieser Raum bietet viel, zwei Fachwerkträger rahmen den Schornstein, der Kamin als Zentrum zwischen Küche, Wohnen und Essen.
Und auch, wenn die Bauzeit von allen erdenklichen Umständen überschattet wurde, so wie die jungen ukrainischen Maurer, mit denen man sich wunderbar verständigt hatte, mittendrin überstürzt in ihre Heimat zurückgerufen wurden, und die Folgen des Krieges alles weitere erschwerte, so steht da nun ein Haus, das den Bewohnenden ein Zuhause wird, das viele Geschichten erzählen – und zu Hause werden kann.
- Antje Freiesleben, Oktober 2023 -
Publication: www.afasiaarchzine.com
Fotos: Sebastian Schels, u.a.